Ein bisschen bleiben wir noch

Krisen und Konflikte werden immer auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen, egal ob private Familienfehden oder internationale Staatskrisen. Das Drama EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH nimmt den Blickwinkel zweier geflüchteter Kinder ein, die in Österreich Schutz suchen – jedoch nicht ohne Hindernisse.

Vor sechs Jahren mussten die inzwischen 13-jährige Lilli (ROSA ZANT) und ihr jüngerer Bruder Oskar (LEOPOLD PALLUA) gemeinsam mit ihrer Mutter aus dem umkämpften Tschetschenien fliehen. In Wien fanden sie vorerst Unterschlupf, nun droht jedoch die Abschiebung in die fremdgewordene Heimat. Aus Verzweiflung unternimmt die Mutter einen Suizidversuch, den sie schwerverletzt überlebt und in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wird. Die Geschwister hingegen landen in getrennten Pflegefamilien, bleiben jedoch insgeheim in Kontakt.

HEIMAT IST DORT, WO…

Niemandem fällt es leicht, sich für die Flucht zu entscheiden. All die liebgewonnenen Menschen, Orte, Erinnerungen zurückzulassen. Doch oft bleibt Betroffenen von Bürgerkriegen, politischen Revolutionen oder klimatischen Umweltveränderungen schlichtweg keine Wahl. Auch ARASH T. RIAHIs Familie floh Anfang der 1980er-Jahre aufgrund politischer Verfolgung aus dem Iran ins fremde Österreich. Sicherlich ließ der damals Zehnjährige diese traumatischen Erfahrungen in die Schreibarbeiten für EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH miteinfließen. Daneben diente die Buchvorlage OSKAR UND LILLI der österreichischen Schriftstellerin MONIKA HELFER dem Filmemacher als Inspiration.

Von Beginn an zeichnet Riahi ein trauriges Familienbild. Das jugendliche Mädchen und ihr kleiner Bruder sitzen ungeduldig an einem abgewetzten Holztisch. An der Wand eine altbackende Landschaftstapete mit Schwänen und Elefanten. Als es klopft, springen sie erwartungsvoll auf und öffnen die Wohnungstür. Doch herein kommt nicht wie erhofft die Mutter, sondern uniformierte Polizisten. Das Motiv enttäuschter Erwartungen soll die beiden Kinder und den Zuschauer fortan stetig begleiten. Der verzweifelte Suizidversuch der Mutter verschafft der kleinen Familie zwar einen Aufschub, jedoch anders als die Kinder es sich vorstellen. Die Mutter landet in psychiatrischer Behandlung, die Geschwister in getrennten Pflegefamilien. Riahis Botschaft ist klar: Ein Happy End ist nicht in Sicht. Vorerst zumindest. Denn Lilli und Oskar bedienen sich in ihrer Not ihrer größten Stärke: kindlicher Beharrlichkeit.

(ANTI)MÄRCHENHAFT

Im weiteren Verlauf teilt der Zuschauer wechselnd die Perspektive mit Lilli und Oskar in ihren neuen Habitaten. Während Lilli sichtlich misstrauisch und distanziert gegenüber ihrer bemühten Pflegemutter sowie der neuen Schulumgebung auftritt, geht Oskar zum Gegenangriff über. Gewappnet mit bewusst provokanten Fragen und Besserwisserei, treibt der Achtjährige seine öko-liberalen Übergangseltern Stück für Stück in den Wahnsinn. EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH gewinnt so einige humoristische Untertöne, ohne den Bogen zu überspannen oder in peinlichen Klamauk abzudriften. Riahi versteht es, die angebrochene Coming-of-Age-Thematik durch geschickt eingestreute Erinnerungsfetzen wieder zum Ausgangspunkt zurückzuführen. So verpasst er seinen kleinen Protagonisten ein ambivalentes Profil.

Großen Anteil an dieser Ausgewogenheit tragen auch ROSA ZANT und LEOPOLD PALLUA, die sowohl die kindlich-naiven als auch traumatischen Passagen überzeugend und zugänglich spielen. Doch auch wenn die Zuschauersympathien klar verteilt sind, schafft es der Regisseur, auch seinen Nebenfiguren einige Facetten abzugewinnen. So offenbart die anfängliche „Heile Welt“ der Pflegefamilien immer mehr Risse und Macken. Besonders intensiv entwickelt sich hier die Beziehung zwischen Oskar und seiner neuen Großmutter (CHRISTINE OBERMAYER) heraus, deren krankheitsbedingter Wechsel zwischen Beschwingtheit und Melancholie jedoch teils zu brachial und befremdlich daherkommt.

DREIMAL WIENER SCHNITZEL MIT POMMES, BITTE!

Die größte Herausforderung bei EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH offenbart sich jedoch in der finalen Zusammenführung der familiären Odyssey. Immer wieder nährt Riahi die Hoffnung der Zuschauer durch kleine Erfolge wie etwa Oskars „Finanzierungsplan“ einer gemeinsamen Flucht nach Südamerika, während in Lilli immer größere Zweifel heranwachsen und sie sich durch den Einblick in ein Leben ohne Geldsorgen sowie ständiger Angst vor der Polizei mit ihrer neuen Situation anfreundet. Politische oder gesellschaftskritische Nuancen sucht man in Riahis Film jedoch vergebens, was den gesamten Film trotz seiner realitätsnahen Bilder gerade angesichts der jüngeren europäischen Flüchtlingsvergangenheit seiner Glaubhaftigkeit beraubt und durch einen bewusst offen gehaltenen Ausgang das Happy End etwas ungeschickt umschifft. Die verträumten Szenen mit versteckten Gesichtern auf beschlagenen Fensterscheiben oder langsam rotierenden Badezimmer schlagen jedoch immer wieder die Brücke zur emotionalen Gedankenwelt der beiden Kinder, deren Vorstellung von Heimat ganz klar definiert ist: Dreisamkeit.

Titel: Ein bisschen bleiben wir noch
Regie: Arashi T. Riahi
Darsteller: Rosa Zant, Leopold Pallua, Anna Fenderl, Simone Fuith, Christine Obermayer
Drehbuch: Arashi T. Riahi
Laufzeit: 1h42m

Veröffentlichung: 02.09.2021 (Kinostart)
Quelle: imdb.com

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