Das neueste Werk THE FRENCH DISPATCH des texanischen Filmemachers ist ein waschechter „Wes Anderson“, durch und durch. Aber wie viel Wes Anderson kann man einem breiten Kinopublikum zumuten?
Bauanleitung eines typischen „Wes Anderson“
Jeder, der schon mal einen Film von WES ANDERSON gesehen hat, wird auf Anhieb zwei eklatante Auffälligkeiten benennen können. Erstens erzählt er mit unerschöpflicher Ausdauer episodenhafte Geschichten von Figuren aus jedem denk- und undenkbaren Kontext. Jede Figur erscheint auf seine Art einzigartig und stereotypisch zugleich, untermalt mit intimbiografischen Kommentaren eines gesichtslosen Erzählers abseits der Leinwand. Zweitens spürt man in jedem Bild- und Tonschnipsel Andersons perfektionistische Besessenheit seines Handwerks. Jeder gewählte Blickwinkel, jeder positionierte Gegenstand, ja sogar jeder Atemzug der Figuren scheint bis ins letzte Detail durchdirigiert.
Diese beiden anspruchsvollen Stilmittel ergeben eine Schablone, die sich auf jedes Andersonsche Werk auflegen lässt. Und trotzdem wirkt jeder Film auf seine eigene Weise, angetrieben durch die schier grenzenlose Kreativität des Regisseurs selbst. Doch mit THE FRENCH DISPATCH hat Anderson sein wohl ambitioniertestes Werk abgeliefert – und scheitert schlussendlich an sich selbst.
Eine Geschichte aus vielen
Den Dreh- und Angelpunkt bildet eine fiktive Stadt im Frankreich der 1950er-Jahre, die sowohl ländlichen Charme als auch großstädtische Hektik in sich vereint. Das war ausschlaggebend für Arthur Howitzer Jr. (BILL MURRAY), hier das Magazin „The French Dispatch“ zu gründen. Das überschaubare Redaktionsteam stürzt sich tagtäglich auf das städtische Klein-Klein und sammelt allerlei Interessantes, Skurriles sowie Absonderliches für die nächste Ausgabe zusammen.
WES ANDERSONs Geschichte umkreist zunächst die Historie sowie den Aufbau des gelben Hochhauses mit den unzähligen Treppen, auf dessen Dach „The French Dispatch“ in knalliger Leuchtreklame prangt. In jedem Winkel surrt, tippt und wuselt es, damit alles vermeintlich Wichtige noch vor Druckschluss den Segen des Chefredakteurs erhält. BILL MURRAY erweist Anderson wiedermal die Ehre und spielt dieses Mal einen fokussierten Schnauzbartträger mit einem einzigen Credo: Nicht weinen.
Gewohnt ungewöhnlich
Nach dem allgemeinen Überbau steuert Anderson die drei Magazinressorts an und wandelt die filmische Erzählweise hin zum Episodenhaften. Jeder der drei Abschnitte leitet mit einem Abriss über den jeweils zuständigen Redakteur ein, um anschließend detailliert in ihren geschriebenen Geschichten zu besonderen Personen zu versinken. Sei es ein Mörder mit Kunstbegabung, ein studentischer Revolutionsführer mit Liebeskummer oder eine merkwürdige Kindesentführung: Anderson bleibt in seinen liebevoll auserzählten Geschichten seiner Devise „Aufmerksamkeit durch Andersartigkeit“ treu.
Jede Figur scheint greifbar und irgendwie bekannt, offenbart jedoch ein Potpurri verschiedenster Eigenheiten und Schrullen mit mehr oder weniger Sympathiewerten. Großen Anteil an der Glaubhaftigkeit hat wieder mal das namhafte Schauspielensemble um FRANCES MCDORMAND, TILDA SWINTON, OWEN WILSON oder JEFFREY WRIGHT, das mit immenser Spiellust und wunderbaren Kostümen Andersons Visionen in Fleisch und Blut überträgt. Anderson hommagiert zudem im großen Stil die US-Magazinkultur Anfang des 20. Jahrhunderts, weshalb spätere Bigplayer der Medienbranche wie „The New York Times“ oder „Vogue“ ihre eigenen Anspielungen erhalten.
Ein Film wie ein Puppenhaus
Diese komplexe und detaillierte Erzählweise fordert die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu jeder Zeit. Gelegenheiten zum mentalen Durchatmen gibt es nur selten. Auf einen erkennbaren roten Faden verzichtet Anderson vollständig bei THE FRENCH DISPATCH, was in Vorgängern wie MOONRISE KINGDOM oder GRAND BUDAPEST HOTEL noch durch eine verbindende Übergeschichte gegeben war. Stammschauer von Andersons Filmen werden damit wenig Probleme haben, Erst- oder Gelegenheitssichter hingegen werden schlichtweg von der thematischen Fülle überrollt.
Beeindruckend ist Anderson wiederum die visuelle Ausgestaltung von THE FRENCH DISPATCH gelungen. Knallbunte Settings gepaart mit unzählbaren Requisiten und kulturellen Anspielungen ziehen den Zuschauer in ihren Bann. Am liebsten würde man kurz auf Pause drücken und jeden Winkel nach liebevoll eingestreuten Details absuchen. Jeder Szenenwechsel hommagiert offensichtlich die Theaterbühnenwelt und kaschiert die wechselnden Bühnenbilder mit „zwischen den Welten“ wandelnden Figuren. Wie in einem Puppenhaus baut Anderson Raum für Raum auf und führt eine ruhige-entlarvende Kamera, nur um im nächsten Moment buchstäblich Wände zu durchbrechen. Dieser Bilderrausch weiß zu fesseln und stellt den bisherigen Höhepunkt in Andersons eigenwilligem Inszenierungsstil dar.
Nur für die Nische geeignet
WES ANDERSON lebt seine Andersartigkeit auf der Leinwand mit Leib und Seele aus, was jedes seiner Werke zu einem einzigartigen Erlebnis macht. Jedoch bleiben die Grundzutaten stets dieselben, woran auch neue inszenatorische Superlative nichts ändern. Für ein breites Kinopublikum ist dieses Rezept mehr als gewöhnungsbedürftig. Und selbst Nischenliebhaber kommen hier nur bedingt auf ihre Kosten, hat Anderson doch in der Vergangenheit bereits interessantere Figuren und Geschichten zum Leben erweckt. Anderson macht hier auch keinen Hehl daraus und bläst seinen Puppenhaus-Stil zu derart grotesker Überdimensioniertheit auf, dass man sich nach fast zwei Stunden arthousiger Dauerkanonade die Frage stellen muss: Will Anderson mit THE FRENCH DISPATCH überhaupt noch eine übergeordnete Geschichte erzählen oder muss sie lediglich für seine episodenhaften Eskapaden herhalten?
Titel: The French Dispatch
Regie: Wes Anderson
Darsteller: Bill Murray, Tilda Swinton, Owen Wilson, Benicio del Toro, Jeffrey Wright, Frances McDormand
Drehbuch: Wes Anderson
Laufzeit: 1h47m
Veröffentlichung: 21.10.2021 (Kinostart)
Quelle: imdb.com